Die kleine Anna
Die kleine Anna war schon seit längerer Zeit alleine in ihrem Raum. Ihre Mutter fragte sich, warum es so ruhig war. Da kam Anna ganz aufgeregt aus ihrem Zimmer gerannt: “Sieh mal, mein Bild!”, sagte sie mit leuchtenden Augen. Annas Gemälde war eine herrliche Mischung aus leuchtenden Farben und Formen. “Was hast du da schönes gemalt?”, fragte ihre Mutter. Anna schaute ihre Mutter ernst an und sagte: “Das ist Gott. Leider passte er jedoch nicht ganz in das Bild.”
Das erste Gebot
Ich bin katholisch aufgewachsen und kann mich daher noch an die Zehn Gebote erinnern. Ein Teil des ersten Gebotes lautet “du sollst dir kein Bild von deinem Gott machen”. Gemeint ist damit, dass Gott oder das Göttliche größer ist als ein Bild oder eine Statue es darstellen könnte. Kein Bild könnte Gott jemals gerecht werden. So wie in der Geschichte mit der kleinen Anna würde Gott auf kein Bild passen. Dennoch versuchen wir uns immer wieder Bilder vom Göttlichen zu machen, um es greifen zu können.
Mein Bild von mir
So wie es mit Gott ist, ist es auch mit mir. Mit jedem Bild, das ich mir von mir mache und jeder Rolle, mit der ich mich identifiziere, versuche ich mich zu erkennen und grenze mich doch nur selber ein.
Aber ich mache mir immer wieder ein Bild von mir. Ich habe konkrete Vorstellungen, wie ich sein sollte. Wenn ich diesem Bild von mir jedoch nicht genüge, dann bin ich nicht gerade freundlich zu mir. Ich mache mich nieder und gehe hart mit mir ins Gericht, dass ich meinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht werde.
Die Dozentin
Als Dozentin an der Hochschule sehe ich mich als Lehrende, die Verständnis für Studierende hat, dennoch fordernd und dabei gerecht ist. Wenn es nicht so gut läuft und ich diesem Bild von mir nicht gerecht werde, dann bin ich unzufrieden. Ich vergleiche mich mit meinem Bild von mir und geißle mich dafür, dass ich dieser Erwartung nicht erfülle.
Die Meditationslehrerin
Ich möchte ein offenes Ohr für die Menschen haben, die zu meinen Meditationsabenden kommen. Um sie zu unterstützen, möchte ich geduldig und ihnen liebevoll zugewandt sein, sodass jeder den Mut findet, seinen eigenen Weg zu gehen. Das ist mein Bild von mir als Meditationslehrerin. Dieses Bild erreiche ich oft nicht. Vor allem an der Geduld hapert es immer wieder. Schnell kommen Selbstzweifel, wenn ich mein Bild nicht erfülle, und ich vergleiche mich mit anderen, die vermeintlich so viel bessere Meditationslehrer:innen sind als ich.
Die Schwester und Tochter
So viele Rollen gilt es auszufüllen. In der Familie sind Rollen vielleicht am schwersten zu durchschauen und zu hinterfragen. Ich bin die Jüngste in der Familie und meine Rolle ist das Nesthäkchen. Lange hatte ich auch das Bild von mir, dass ich die Kleine bin. Dieses Bild habe ich unbewusst immer wieder erfüllt. Habe mir Dinge nicht zugetraut, habe mich klein geredet und gleichzeitig wie ein trotziges Kind alles alleine machen wollen. Im Zusammensein mit meinen Schwestern oder meinen Eltern falle ich immer wieder zurück in die Rolle und erfülle mein Bild von mir als Nesthäkchen.
Das Bild ist zu klein
Was passiert, wenn ich mir für die verschiedenen Lebensbereiche ein Bild von mir mache? Ich kreiere ein Idealbild, wie ich zu sein habe. Manchmal ist es auch ein Zerrbild, was ich alles nicht gut genug kann und wie klein ich bin. Auch dieses Bild versuche ich unbewusst immer wieder zu erfüllen.
Diese Bilder und Rollen, denen ich gerecht werden will, schränken mich ein. Denn ich bin alles gleichzeitig: die Dozentin, die Meditationslehrerin, die Tochter, die Schwester, die Ehefrau, die Geschäftsfrau, die Freundin usw. Und gleichzeitig bin ich noch so viel mehr als das. Selbst wenn ich mir von jedem Lebensbereich ein Bild von mir machen würde, würde ich mich niemals ganz erfassen. Auch ich passe nicht ganz auf das Bild. Mich macht so viel mehr aus, als das, was ich von mir selber denke und wie ich mich selber sehe.
Dein Bild von dir
Welche Bilder hast du von dir? Welche Ansprüche stellst du an dich in den Rollen deines Lebens?
Mit Sätzen wie “ich bin ja jemand, der …” versuchst du diese Bilder ins außen zu tragen und damit wahrzumachen. Und gleichzeitig schränkst du dich ein. Du begrenzt dich auf die Bilder, die du dir selber von dir machst.
Die Hürden der eigenen Erwartungen
Deine Erwartungen begrenzen dich. Denn im Vergleich mit deinen Erwartungen, ist es leicht immer wieder zu straucheln und vermeintlich zu scheitern. Schraubst du deine Ansprüche nur hoch genug, wirst du immer wieder scheitern und kannst guten Gewissens aufgeben. Du hast es ja versucht, aber es reicht halt nicht. Mit dieser Selbstsabotage aktivierst du immer wieder deine eigenen Glaubenssätze. Bei mir ist das oft der Sprung in die nächste Karussellfahrt der Selbstabwertung und Selbstzweifel
Die Bilder
Je enger und klarer deine Bilder von dir selber sind, desto schneller droht immer wieder diese Form der Selbstsabotage. Je klarer mein Bild von mir selber, desto eher werde ich meinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht.
Je mehr Weite du darin zulässt, wie du dich selber siehst, desto mehr Raum ist da, dich zu entfalten. Dein Leben ist stets in Bewegung. Veränderung ist die grundlegende Antriebskraft des Lebens. Mit deinen Bildern von dir, setzt du dir Grenzen, die Veränderung schwer macht.
Werde dir deiner Bilder und Erwartungen an dich selber bewusst. Wenn du die von dir selbst gesetzten Grenzen deiner eigenen Bilder und Erwartungen erkennst, hast du angefangen an ihren Mauern zu rütteln.
Bildnachweis für diesen Beitrag: Pinsel, Farbe, Malen © weinstock (pixabay CC-0)