Antwort aus dem Kopf
Kennst du diese Frage auch? Fragst auch du dich auch manchmal: Bin ich ein guter Mensch?
Mein Kopf fängt in diesen momentan an, aufzuzählen, was ich in meinem Leben vielleicht schon Gutes getan habe. Und ich schaue auch auf das Schlechte, was ich unterlassen habe. Denn auch nicht ausgesprochenes Worte, die verletzt hätten, zählen irgendwie zum Guten. Auch die Taten zum Nachteil anderer, die ich nicht getan habe, stehen irgendwie auf dem Zettel, mit dem Guten.
Viel mehr
Doch gleichzeitig kommen die Gedanken: So vieles hättest du tun können, um mehr Gutes in die Welt zu tragen. Du hättest so viel mehr machen können. Damals als das Ahrtal unter Wasser stand, hätte ich mehr machen können. Für die Geflüchteten könnte ich mehr machen. Ich könnte mehr tun für die Menschen, die ohne Obdach sind.
Es gibt so vieles, wo gute Taten nötig sind. Reicht das, was ich mache, damit ich ein guter Mensch bin?
Und dann gibt es ja auch noch die Tage, in denen es mir schwerfällt, fair und freundlich zu sein. Manchmal rede oder handle ich sogar alles andere als gut. Ich kann gemein sein, böse Gedanken denken, fiese Worte sagen und nicht zum Guten handeln, obwohl ich es eigentlich besser weiß – und es eigentlich auch anders tun will. Ja, auch diese Momente gibt es. Macht mich das zu einem schlechten Menschen?
Passt die Frage?
Aber vielleicht ist die Frage falsch gestellt. Was ist denn ein „guter Mensch“? Ein Mensch, der gute Taten tut? Ein Mensch, der stets nur gute Worte spricht, der nie die Stimme erhebt und im Streit ungerecht ist? Jemand, der nie einen fiesen Gedanken hat, nie ein böses Wort sagt? Das klingt beim genaueren Nachfühlen sehr moral-schwanger und irgendwie weit weg von der Realität.
In jedem Menschen sind Teile des Hellen und Dunklen.
Eine Geschichte
Du kennst bestimmt die Geschichte von dem hellen und dem dunklen Wolf? Falls du dich nicht mehr ganz erinnerst, erzähle ich sie dir noch einmal:
Nachdem ein Indianerjunge das erste Mal mit auf die Jagd durfte, fragt er am Abend am Lagerfeuer seinen Großvater: „Großvater, ich soll ein Jäger werden und heute war ich das erste Mal mit auf der Jagd. Doch in meinem Herzen kehrt keine Ruhe ein. Voller Vorfreude stand ich heute Morgen auf und ich freute mich über die Sonne und den weiten Himmel. Aber als ich keine Spuren gefunden habe, war ich traurig und sogar wütend. In meiner Wut vertrieb ich das Wild, das wir jagen wollten. Ich hasste die Sonne, das Gras und mich selber. Warum ist das so?“
Sein Großvater schwieg lange und sagte dann: „Im Herzen eines jeden Menschen leben zwei Wölfe. Der eine ist weiß wie der helle Tag, der andere schwarz wie eine mondlose und wolkige Nacht. Beide Wölfe kämpfen in deinem Herzen erbittert miteinander.“
Der Junge fragte: „Kämpfen diese Wölfe auch in meinem Herzen?“ Als der Großvater bejahte, fragte der Junge besorgt: „Welcher der Wölfe wird gewinnen?“ Ruhig schaute der Großvater seinen Enkel an und sagte: „Der, den du nährst.“
Lange Zeit
Lange Zeit dachte ich, das wäre das Ende der Geschichte. Wenn ich nur den weißen Wolf nähre, dann scheint in meinem Leben die Sonne. Dann bin ich ein guter Mensch. Aber sosehr ich den weißen Wolf nähre, der schwarze Wolf zeigt sich dennoch immer wieder. Ich spüre Neid, auf das vermeintlich leichte Leben der anderen. Ich gönne anderen, dass ihnen etwas schiefgeht, weil ich mich vorher von ihnen schlecht behandelt gefühlt habe. Der schwarze Wolf zeigt sich doch immer wieder.
Wie es weiter geht
Vor einiger Zeit fand ich heraus, dass die Geschichte der Wölfe an der Stelle noch nicht zu Ende ist.
Der Großvater fuhr fort: „Aber bedenke, wenn du nur den weißen Wolf fütterst, wird der Schwarze hinter jeder Ecke lauern, auf dich warten. Er wird sich zeigen, wenn du schwach oder abgelenkt bist. Er wird alles tun, um die Aufmerksamkeit von dir zu bekommen, die er braucht. Je weniger Aufmerksamkeit er bekommt, umso stärker wird er den weißen Wolf bekämpfen. Aber wenn du ihn beachtest, ist er glücklich.
Der schwarze Wolf gehört zu dir, so wieder weiße Wolf. Beide gehören zusammen, beide gehören zu dir.“
Die falsche Frage
Mein Kopf weiß, dass auch meine dunklen Gefühle zu mir gehören. Aber es fällt mir dennoch schwer, diese tatsächlich anzunehmen. Ich weiß, es gibt auch eine dunkle Seite in mir. Diese möchte ich nicht unbedingt füttern oder fördern, aber ich möchte sie auch nicht unterdrücken. Ja, ich denke manchmal gemeine Sachen. Ja, ich könnte mehr Gutes tun.
Aber die Frage „Bin ich ein guter Mensch?“ ist die falsche Frage. Es geht nicht darum, ob ich gut oder schlecht bin. Die Frage muss vielmehr lauten „Bin ich ein Mensch?“ Lebe ich mein Menschsein und damit meine Menschlichkeit?
Ein ganzer Mensch
Wenn ich als ganzer Mensch mein Leben lebe, bin ich mir der Verbundenheit mit allem bewusst. Ich spüre Mitgefühl. Ich leide, wenn andere leiden. Ich unterstütze und helfe, wenn ich kann. In Beobachtungen von sehr kleinen Kindern, die noch kaum durch soziale Normen geprägt sind, wurde deutlich, dass das Mitgefühl und der Wunsch anderen zu helfen, das natürliche Verhalten als Mensch ist. Vielleicht haben wir es nur verlernt?
Bin ich ein ganzer Mensch, der auch seine dunkle Seite kennt und anerkennt? Ich brauche sie nicht zu fördern oder zu füttern, aber ich brauche sie auch nicht zu verteufeln. Als ganzer Mensch ist beides Teil von mir. Und die Antwort auf diese Frage „Bin ich ein Mensch?“ ist ein klares Ja!
Ja, ich bin ein Mensch, dem es leid tut, wenn durch meine Wut oder Unachtsamkeit jemand anderes verletzt wird. Ich bin ein Mensch, weil ich mich einfühlen kann und mich entschuldigen kann. Und ich bin ein Mensch, der auch mal einen schlechten Tag hat, an dem nichts davon gelingt.
Wenn ich dieses Menschsein lebe, bin ich ein guter Mensch.
Stellst du dir auch manchmal diese Frage?
Welche dunklen Seiten an dir, würdest du am liebsten ignorieren oder für immer verbannen?
Bildnachweis für diesen Beitrag: Wölfe, Hell, Dunkel © Mingo123 (pixabay CC-0)