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90 Sekunden Wut – vom Umgang mit Emotionen

Lesezeit: 5 Minuten

Wut, was ist das?

Es gab Zeiten, in denen wusste ich nicht, wie sich Wut anfühlt. Meine (unbewusste) Überzeugung war: Wütend zu sein gehört sich nicht. Denn aus Wut kann sich ein Konflikt entwickeln und Konflikte gilt es möglichst zu vermeiden. Die Wut gehört also ganz tief in meinen inneren Keller, in die Kiste mit den unerwünschten Emotionen. Dort hat sie Gesellschaft, denn dort lagert auch der Neid, die Traurigkeit, die Einsamkeit, die Minderwertigkeit. Das sind alles Gefühle, die ich nicht gerne fühle. Also habe ich sie in meinen inneren Keller verbannt und dort in eine Kiste mit Deckel gesteckt. Es dauerte eine Zeit, bis ich bemerkt habe, dass ich mit der Wut, dem Neid und den anderen auch meine Freude, meine Leichtigkeit und Ausgelassenheit nach dort unten verbannt hatte (siehe dazu auch den Blogbeitrag „Geführte Meditation – damit der Denker Ruhe gibt“).

Wie die Wellen auf dem Meer

Mit Gefühlen ist es wie mit der Bewegung des Meeres: Wellen können nur einen Wellenkamm bilden, wenn sie auch ein Tal bilden. Wenn Wellen kein Wellental mehr bilden, entsteht auch kein Wellenkamm und das Meer ist unbewegt und flach. So flach hat sich mein Leben angefühlt: wenig Leid und auch wenig Freude, flach und unbewegt.

Seitdem ich mich mit Meditation und Reiki nach dem Dalmanuta Prinzip beschäftige, fällt es mir viel leichter, Gefühle zuzulassen. Ich freue mich, bin albern, ärgere mich, bin wütend, überschwänglich, trauere, schäme mich, ängstige mich, bin mutig, zögerlich oder ein bisschen verrückt. Das klappt nicht immer, alte Verhaltensmuster wirken oft lange. Aber das Spektrum meiner Gefühlswelt ist so viel breiter geworden. Meine Wellen schlagen wieder höher. In meinem Meer der Gefühle ist endlich wieder Bewegung und damit auch wieder Lebensfreude drin. Und in den Wellen meiner Emotionen habe ich auch die Wut wieder in mir entdeckt.

Was ist diese Wut, die in uns hoch kocht?

Wut oder Ärger sind wie Angst Emotionen und diese haben verschiedene Aspekte, von denen ich drei hier beschreibe:

  • Physiologische Reaktion
    Emotionen lösen eine körperliche Reaktion aus. Diese kann gemessen werden. Bei Angst steigt z. B. der Puls, Hormone werden ausgeschüttet, um den Körper auf mögliche Handlungen wie Angriff oder Flucht vorzubereiten. Auch als angenehm bezeichnete Gefühle wie Liebe lösen körperliche Reaktionen aus, z. B. ein beruhigter Puls oder ein Wärmegefühl im Inneren.
  • Verhaltensreaktion
    Viele Emotionen lösen ein Verhalten aus. Durch Emotionen baut sich eine Spannung oder Entspannung im Körper auf und diese Spannung möchte sich entladen. Bei kleinen Kindern ist dies gut zu beobachten. Wenn sie sich über etwas ärgern oder wütend sind, zeigen sie es sehr deutlich. Durch Erziehung und Sozialisation ebbt dieser Reflex ab, die Emotion direkt auszuleben.
  • Subjektive Aspekte
    Gleiche Reize lösen bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Reaktionen aus. So platzt dem Einen die Hutschnur, wenn auf der Autobahn vor ihm nur einer ausschert. Einen Anderen berührt selbst ein gewagtes Überholmanöver kaum, bei dem er selber stark bremsen muss. Die eigene Erfahrung, die Tagesform oder grundlegende Ausrichtung des Charakters spielen hier eine Rolle.

Kulturelle Prägung

Gesellschaftliche Normen, die wir in der Kindheit erlernen, regeln einen „akzeptierten“ Umgang mit Emotionen. Dieser unterscheidet sich in unterschiedlichen Kulturen. Am Beispiel der Trauer wird es deutlich. In Deutschland wird die eigene Trauer wenig gezeigt, Weinen oder Klagen in der Öffentlichkeit gibt es nicht. In einigen muslimisch geprägten Ländern ist ein lautes Weinen oder Klagelieder beim Tod eines geliebten Menschen üblich. Der Trauer wird lautstark Ausdruck gegeben. Was wir als Kind gelernt haben, ist ein gelerntes Verhalten. Intuitiv wollen wir intensive Gefühle ausleben, die im Inneren sich aufstauende Energie herauslassen. Die anerzogene „preußische Zurückhaltung“ von Gefühlsausbrüchen verhindert diesen Ausbruch. Sie unterbindet jedoch keine Gefühle, sie verhindert nur, dass die Gefühle ausgelebt werden. Die Energie im Inneren kann sich nicht lösen.

Wie oft schlucken wir unseren Ärger hinunter?

Halte einmal kurz inne und spüre nach, wie oft du Emotionen unterdrückst – egal ob positiv oder negativ von dir bewertet. Ja, auch positive Gefühle unterdrücke ich, z. B. wenn ich den guten Arbeitskollegen nicht in den Arm nehme, als ich von dem Tod eines Elternteils von ihm erfahre. Ich drücke mein Mitgefühl in Worten oder vielleicht einem Händedruck aus. Den mitfühlenden und verbindenden Impuls der Umarmung vermeide ich. Negative Emotionen wie Wut, Ärger oder Neid unterdrücke ich hingegen regelmäßig. Im Supermarkt an der Kasse trommelnd auf dem Boden zu liegen, fühlt sich mit 43 Jahren nicht wie eine adäquate Reaktion auf eine lange Schlange an. Diese Gefühle möchte ich am liebsten nicht fühlen oder erleben. Wenn ich also nicht gerade im Auto sitze und es keinen stört, wenn ich laut schreie, würge ich diese Gefühle ab und erlaube mir keinen aktiven Umgang mit ihnen. In der Kiste im inneren Keller ist noch Platz.

Emotionen leben nur 90 Sekunden

Das Gefühl durfte sich nicht richtig zeigen, ich habe es wie gelernt unterdrückt. Die Energie des Gefühls wird in meinem Inneren gehalten, sie kann sich nicht lösen. Dabei brauchen Emotionen laut der Neurowissenschaftlerin Dr. Jill Bolte Taylor weniger als 90 Sekunden, um die inneren Bahnen zu durchlaufen, wie sie es in diesem Interview unter Anderem beschreibt. Dieses Wissen gibt mir die Wahlfreiheit: Möchte ich mit dem Gefühl in Interaktion treten, die Energie ausleben oder möchte ich es beobachten und wieder gehen lassen? Jedes Gefühl möchte gelebt und erfahren werden. Damit meine ich, dass es Raum bekommt. Das heißt nicht, dass es in jedem Fall ausgelebt werden muss. Wenn ich mit Wut durchströmt bin, muss ich dieses Gefühl nicht durch das Zerschlagen von Porzellan ausleben. Die Wahrnehmung, dass mich gerade Wut durchflutet, reicht als Ausleben aus. Ich stecke das Gefühl nicht so schnell wie möglich in die Kiste in meinem inneren Keller, sondern ich nehme es wie ein externer Beobachter wahr. Dieser Weg fällt mir schwer. Ich bevorzuge einen aktiven – aber für meine Mitmenschen und mein Porzellan harmlosen – Umgang mit meinem Ärger. Im Auto schreie ich richtig laut und lasse so die Energie des Gefühls raus. Das geht auch draußen in der Natur sehr gut. Auch das Ausschütteln von Armen und Beinen hilft dem Gefühl sich auszuleben und löst die Energie im Körper. Auch bewusstes Ein- und Ausatmen ist ein möglicher Weg das Gefühl wahrzunehmen.

Ein heilender Impuls

Der Impuls, der auf eine Emotion folgt, ist oft heilend. Denn er lässt die Energie des Gefühls fließen. Im Wort Emotion ist das englische Wort „motion“, das Bewegung bedeutet, enthalten. Der Wortursprung liegt im Lateinischen „emovere“ und bedeutet herausbewegen. Emotionen wollen sich herausbewegen, sie wollen ausgedrückt werden. Im Ausdrücken der Emotion liegt Heilung. Die Energie des Gefühls bleibt in Bewegung, durchflutet mich und löst sich.

Achtsames Ausleben von Emotionen

Anders als mir fällt Menschen mit geringer Impulskontrolle das Ausleben ihrer Emotionen nicht schwer. Ihre Mitmenschen bekommen ungefiltert ihre Gefühle präsentiert und leider zu oft im wahrsten Sinne des Wortes „um die Ohren geschlagen“. Ein unkontrolliertes Ausleben negativer Emotionen wie Wut, Frust oder Ärger ist beim Thema häuslicher Gewalt aktuell stark in der gesellschaftlichen Diskussion. Wenn deine „innere Zündschnur“ eher kurz ist, ist die Information „Gefühle leben nur 90 Sekunden“, vielleicht noch wichtiger und sehr wertvoll. Mit der Initiative „Take 90“ greift die Nichtregierungsorganisation Police Now in England die Erkenntnis der Kurzlebigkeit von Emotionen auf. Die Kampagne zielt darauf ab, Aggressionen und impulsive Gewalttaten in der Gesellschaft einzudämmen. Dafür haben sie einen beeindruckenden Film gedreht.

Die Geschichten, die ich mir selber erzähle

Eckart Tolle hat in einem Vortrag gesagt „Emotionen sind wie Wetter“. Sie sind immer da, ich kann sie nicht beeinflussen. Aber ich kann meinen Umgang mit ihnen beeinflussen: Wenn ich mir selber eine Geschichte erzähle, dass die ganze Welt sich gegen mich verschworen hat, weil es ausgerechnet jetzt regnet, dann fühle ich die Einsamkeit „ich gegen die ganze Welt“ in mir. Genauso geht es mir mit meinen Gefühlen. Wenn ich mir immer wieder die Geschichte erzähle wie sehr mich der Mensch herab gewertet hat, der mir den Parkplatz weggeschnappt hat, dann bleibe ich in dem Gefühl der Abwertung und des Ärgers gefangen. Meine innere Geschichte hält das Gefühl wach, dabei ist das Ursprungsgefühl längst abgeebbt. Mein unendliches Wiederkäuen, hält etwas wach, dass es schon längst nicht mehr gibt.

Die Verletzung, die du erlebt hast, der Ärger, die Wut, darf sein. Sie hat ihren Raum verdient, sie ist ein Teil von dir. Und dann lass das Gefühl wieder ziehen, lass es sich lösen und wieder leicht werden. Hänge keine schweren und immer wiederkehrenden Gedanken daran, durch das Erzählen einer Geschichte. Lass das Gefühl zu, nimm es wahr, entscheide dich bewusst, wie du die nur knapp 90 Sekunden erleben möchtest, und dann… lass das Gefühl gehen.

Wie steht es bei dir um den bewussten Umgang mit Emotionen?

 

Bildnachweis für diesen Beitrag: Liebe, Wut, Trauer © Lars_Nissen_Photoart (pixabay CC-0)

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